ADHS hat viele Gesichter

„Du wirkst gar nicht so, als hättest du ADHS!“, den Satz hat wahrscheinlich jede Person mit ADHS schon einmal gehört und er ist wirklich nervig, diskriminierend und sinnlos. Ob jemand ADHS hat oder nicht, sieht man der Person nicht auf den 1. Blick an, genauso wenig wie du jemandem z. B. Diabetes ansehen kannst. Niemand würde sagen: „Du siehst gar nicht aus, als hättest du Diabetes.“ Wenn das jemand hat, dann wird es akzeptiert und die Person wird gefragt, was ihr helfen kann, was sie nicht essen darf oder worauf man achten sollte. Bei ADHS ist das selten der Fall. Viele Leute, die sagen, dass sie ADHS haben, werden nicht ernst genommen. ADHS sieht man in vielen Fällen nicht und deshalb ist es nicht da? Ist es deshalb nur eingebildet? NEIN! ADHS ist real. Es beschäftigt die Betroffenen jeden Tag und es ist verdammt anstrengend.

 

 

Dieser Blogartikel ist Teil der Blogparade „ADHS hat viele Gesichter“ von Birgit Oppermann. Vielen Dank für das tolle Thema!

 

 

Wie erkennt man denn ADHS?

ADHS hat bei jeder Person andere Merkmale. Daher werden nicht alle Merkmale auf dich zutreffen, wenn du ADHS hast. Hier ist ein Überblick über die häufigsten Merkmale, aber es gibt noch viele andere:

Unaufmerksamkeit:

  • Flüchtigkeitsfehler
  • Vergessen, verlieren
  • Organisationsprobleme, chaotisch
  • Bringt Aufgaben nicht zu Ende
  • Beginnt mit vielen Dingen gleichzeitig
  • Scheint oft nicht zuzuhören
  • Leicht ablenkbar durch äußere Reize

Hyperaktivität:

  • Braucht viel Bewegung
  • Bewegt immer die Finger oder Zehen
  • Hat ständig etwas in der Hand
  • Wechselt oft die Sitzposition
  • Kann nicht still sitzen
  • Redet sehr viel

Impulsivität:

  • Unterbricht andere
  • Antwortet, bevor die Frage zu Ende gestellt ist
  • Kann nur schwer warten

 

ADHS oder ADS?

Einige haben auch die Diagnose ADS bekommen. ADS gibt es nach den heutigen Diagnosekriterien nicht mehr. Jetzt heißt es ADHS vom unaufmerksamen Typ. Somit bekommen alle im ADHS-Spektrum die Diagnose ADHS und dann wird noch weiter differenziert.

 

 

 

Das Stereotyp von ADHS ist ein kleiner zappeliger Bub, der nicht still sitzen kann, überall herumklettert und ständig redet. Das ist auch ADHS, aber es ist nur eine Form davon. ADHS ist ein weites Spektrum und es zeigt sich bei jeder Person ein bisschen anders.

 

 

Vorurteile

Ein beliebter Standardsatz bei ADHS ist auch: „Du hast ADHS? Du bist ja nicht mal sportlich und sitzt die ganze Zeit nur herum.“ ADHS hat ja auch mehrere ausprägungen. Es gibt die hyperaktive ADHS, bei der die Menschen sehr viel Bewegung brauchen und nur schlecht still sitzen können. Diese Form der ADHS kann man teilweise sehen. Dann gibt es aber auch die unaufmerksame Form und die ist von Außenstehenden nicht sichtbar. Unaufmerksame ADHSler*innen sind innerlich sehr unruhig, haben 100 Gedanken gleichzeitig, wissen nicht, mit welcher Idee sie beginnen sollen und bewegen sich oft nur minimal, sie bewegen z. B. immer die Finger oder Zehen oder haben meist einen Stift oder irgendetwas in der Hand. Das sieht man von außen nicht, aber es ist trotzdem da. Als Drittes gibt es den gemischten Typ. Das bedeutet, dass Betroffene hyperaktiv sind, sich also viel bewegen müssen, aber auch innerliche Unruhe haben.

 

Bei Erwachsenen ist ADHS noch einmal schwieriger zu erkennen, weil sie schon viele Jahre lang gelernt haben, sich anzupassen, nicht zu sehr aufzufallen und niemanden mit ihrer Zappeligkeit oder Unruhe zu verärgern. Nur wenn man in der Diagnostik genau hinschaut, kann man die ADHS-Merkmale erkennen. Das ist manchmal wirklich schwierig. Als Diagnostikerin bin ich auf die Auskünfte und Informationen der Klient*innen angewiesen. Wichtig für eine ADHS-Diagnose ist es, dass die Person auch schon in der Kindheit Symptome aufgewiesen hat. Merkmale aus der Kindheit werden nicht mehr gut erinnert. Teilweise werden auch Eltern oder ältere Geschwister befragt, wie die Person im Kindergarten- und Volksschulalter war. Je nachdem wie alt die Person ist, ist das noch gut möglich. Bei Älteren gibt es aber vielleicht keine Angehörigen mehr, die noch Auskunft geben könnten. Dann verwendet man die Informationen, die man noch bekommen kann.

 

Erfahrungsberichte

Mir ist es sehr wichtig, anderen Informationen und Erfahrungsberichte zur Verfügung zu stellen, denn ich war vor einigen Monaten selbst in der Situation, dass ich überlegt habe, ob ich ADHS haben könnte. Ich habe versucht, so viele Berichte von Betroffenen wie möglich zu lesen, aber ich habe nicht so viel gefunden. Vor allem Frauen sind noch immer unterrepräsentiert. Sehr lange wurden die Symptome von Frauen nicht ernst genommen und nicht als ADHS erkannt, weil Frauen oft (nicht alle) dem unaufmerksamen Typ angehören. Als Kind werden Mädchen als verträumt und tollpatschig angesehen und als Erwachsene sind sie dann chaotisch und vergesslich. Dass das aber eigentlich eine ADHS ist, das erkennen nur wenige. Ich möchte anderen Frauen einen Einblick in mein Erleben der ADHS geben, damit sie Anhaltspunkte haben, wie sich ADHS zeigen kann.

 

Merkmale, die ich bei mir entdeckt habe:

  • Immer 100 Ideen gleichzeitig und ich kann mich nicht entscheiden, womit ich anfangen soll.
  • Ich beginne drei große Projekte gleichzeitig und bin dann total überfordert, weil ich gar nicht so viel Zeit habe.
  • Ich vergesse alles ganz schnell wieder, weil dann schon die nächsten 7 Gedanken kommen und ich mir den einen wichtigen Gedanken nicht merken kann.
  • Um mir wichtige Dinge merken zu können, schreibe ich alles auf kleine Zettel oder Post-ist.
  • Mein Schreibtisch hat eine bestimmte Ordnung, aber für andere sieht er sehr chaotisch aus.
  • Ich kann nicht zuhören. Deshalb war ich nur im 1. Jahr bei Vorlesungen an der Uni und dann habe ich fast alles alleine zuhause gelernt, weil ich von Vorlesungen nichts mitbekommen habe und es deshalb Zeitverschwendung für mich war.
  • Wenn ich längere Zeit sitzen muss, wechsle ich sehr oft meine Sitzposition oder habe einen Stift in der Hand oder spiele an meinem Reißverschluss oder so herum.
  • Wenn mich etwas nicht sehr interessiert, kann ich ein Buch nicht weiterlesen. Ich schweife mit den Gedanken so oft ab, dass ich nicht mitbekomme, worum es geht.
  • Ich fange etwas an, habe dazwischen 25 neue Gedanken und mache schließlich etwas ganz anderes.
  • Wenn ich in die Küche gehe, um mir Wasser zu holen, komme ich mit fünf Sachen zurück, aber ohne Wasser.
  • Ich kann nicht im Bad Zähne putzen, das ist viel zu langweilig, deshalb gehe ich immer durch die Wohnung (Das nervt alle anderen Menschen, früher meine Mama, jetzt meinen Freund).

 

„Jetzt hat doch plötzlich jede*r ADHS“

Nein, nicht jede*r. Nur die Menschen, die es schon immer hatten, es aber nicht wussten. Wie ich schon beschrieben habe, wurden früher hauptsächlich hyperaktive Buben diagnostiziert, alle anderen fielen durchs Raster. Da das Bewusstsein für ADHS steigt und sich immer mehr Menschen damit beschäftigen, bemerken auch immer mehr, dass sie ADHS-Merkmale aufweisen und lassen sich vielleicht testen. Die Leute, die jetzt „plötzlich“ eine ADHS-Diagnose bekommen, haben sich oft viele Jahre lang komisch und anders gefühlt, sie wussten, sie funktionieren anders als andere, aber sie hatten keine Erklärung dafür. ADHS erklärt dann ganz viel und hilft dabei, sich selbst besser kennenzulernen und zu verstehen.

 

Selbstdiagnose

Kritisiert werden vor allem Selbstdiagnosen, denn Unwissende behaupten, dass die Leute zwei oder drei Kurzvideos gesehen haben und dann behaupten, sie hätten ADHS. Menschen, die sich mit ADHS beschäftigen, schauen nicht nur ein paar Videos oder lesen einen Artikel dazu. Sie beschäftigen sich sehr genau damit und wissen manchmal mehr als die Diagnostiker*innen, weil sie sich plötzlich nur mehr mit ADHS befassen. Die Wartezeiten für die Diagnostik betragen teilweise (je nach Region) mehrere Jahre. Das ist ein Wahnsinn und nicht zumutbar. Deshalb ist es aus meiner Sicht legitim, zu sagen, ich bin selbstdiagnostiziert mit ADHS. Wenn man von Gesundheitssystem alleine gelassen wird, dann eben so. Wenn man bei den Betroffenen nachfragt, dann haben sie viel Wissen über ADHS und sie können auch plausibel erklären, wie sie zu ihrer Selbstdiagnose gekommen sind.

 

Der Nachteil der Selbstdiagnose ist, dass man keine Behandlungen oder Medikamente bekommt, solange man keine offizielle Diagnose hat. Aber für das Selbstbild und den Selbstwert ist eine Selbstdiagnose oft schon sehr hilfreich und förderlich.

Nach der Diagnose fallen einige erst einmal in ein Loch. Wer bin ich eigentlich?

Wer mehrere Jahrzehnte ohne Diagnose gelebt hat und immer das Gefühl hatte, sich an andere anpassen zu müssen, kann nicht von einem Tag auf den anderen einfach er oder sie selbst sein. Nach der Diagnosestellung muss diese erst einmal verarbeitet werden und viele fragen sich, dann: „Wer bin ich eigentlich? Habe ich mich jetzt jahrelang verstellt? Bin ich eigentlich noch ich?“ Es ist schwierig, herauszufinden, wer man selbst ist, denn man dachte ja die ganze Zeit, man ist man selbst, aber nach der Diagnose kommt plötzlich ein großer Teil dazu, der bisher im Leben keinen Platz hatte. Manche fallen in ein Loch, weil sie traurig sind, viele Situationen verpasst zu haben. Sie zweifeln an sich selbst und an Entscheidungen die sie getroffen haben, ohne von ihrer ADHS gewusst zu haben. Eine psychologische oder psychotherapeutische Begleitung kann dabei helfen, sich selbst besser kennenzulernen und sich selbst Fehler zu verzeihen, die man gemacht hat, als man noch nichts von der ADHS gewusst hat. Man darf sich selbst verzeihen und vergeben. Man darf aber auch überlegen, ob man anderen verzeiht, dass sie einen unfair behandelt haben, weil sie ebenfalls nichts von der ADHS wussten. Auch Selbsthilfegruppen oder Netzwerke mit anderen Betroffenen sind hilfreich, um sich auszutauschen und neue Strategien entwickeln zu können.  

 

ADHS kommt selten alleine.

40-60% (je nachdem welche Studien man heranzieht) der Menschen mit ADHS haben auch Autismus. Das sind ganz schön viele. Daher ist es sinnvoll, bei einer ADHS-Diagnostik auch immer Autismus mitzutesten und umgekehrt. ADHS und Autismus haben viele Gemeinsamkeiten, aber auch einige Merkmale, die sich gegenteilig zeigen. Deshalb überlagern sich die Symptome oft und machen es noch schwieriger ADHS und/oder Autismus zu erkennen und diagnostizieren.

 

Aber auch Depressionen, Angststörungen oder oppositionelles Verhalten treten zusätzlich zur ADHS auf. Manchmal entstehen diese auch, weil die ADHS nicht erkannt wurde und sich deshalb Despressionen oder Ängste entwickeln, weil die Person nicht sie selbst sein darf, aber auch nicht weiß, warum sie immer wieder in Konflikte gerät.

 

Medikamente

Die Leitlinie für ADHS besagt, dass eine medikamentöse Behandlung die erste Wahl ist. Es gibt verschiedene Wirkstoffe, die den Dopaminhaushalt im Gehirn anpassen und so die Konzentration und Fokussierung erhöhen können.

 

Medikamente haben auch oft Nebenwirkungen. Diese sind aber sehr individuell. Als Psychologin kenne ich mich mit Medikamenten nicht so gut aus, deshalb werde ich darauf auch nicht näher eingehen.

 

Für eine medikamentöse Behandlung braucht man eine*n Psychiater*in. Die sind die Expert*innen dafür und beraten jede Person individuell. Gemeinsam kann man herausfinden, welche Behandlung zu einem passt und oft werden auch mehrere Medikamente ausprobiert, bis das richtige gefunden wird.

 

 

 

Ich wünsche mir, dass ADHS bekannter wird und dass sich die vielen Vorurteile, die in unserer Gesellschaft kursieren, aufgeklärt werden. Ich wünsche mir, dass wir lernen, andere so zu akzeptieren, wie sie sind. Jeder Mensch ist einzigartig und das ist gut so. Wenn alle gleich wären, wäre die Welt auch echt langweilig.

 

Schreibe bitte deine Erfahrungen in die Kommentare, damit andere nachlesen und sich informieren können.

 

Birgit

 

 

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Kommentare: 1
  • #1

    Birgit Oppermann (Donnerstag, 03 Juli 2025 09:37)

    Liebe Birgit, vielen Dank für deine Teilnahme an meiner Blogparade! Ich musste sehr viel Nicken, als ich deinen Text gelesen habe! Ich finde auch, dass es noch viel mehr Erfahrungsberichte von ADHSler*innen braucht. Falls du mal reinschauen möchtest: Hier findest du alle Blogartikel, die zu meiner Blogparade entstanden sind: https://birgit-oppermann.de/adhs-erfahrungsberichte/ Viele Grüße, Birgit